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Die (un)endliche Straße - eine Geschichte von Verzweiflung, Hoffnung und Schicksal

Updated: Jun 10, 2023

"Wohin läufst du?" fragte mich der Junge am staubigen Straßenrand.


Überrascht halte ich inne und blicke ihn an. Ich war so darauf konzentriert einen Fuß vor den anderen zu setzen, dass ich ihn nicht bemerke. Ob er bereits seit Stunden neben mir her läuft oder hier an der Straße auf mich gewartet hat, ich kann es nicht sagen.


Nach wie vor perplex mustere ich den Jungen. Er ist vielleicht 1.30m groß, schlank und einfach gekleidet; sein blondes Haar struppig vom Kopf stehend. Ein hübscher aber einfacher Junge, der in einer Menge Gleichaltriger nicht weiter aufgefallen wäre.


Wenn da nicht seine Augen gewesen wären, die mit Ruhe, Geduld und einem brillanten Funkeln von Intelligenz, Witz und Spott gerade hinein in die meinen blickten.


Doch hinter diesem Funkeln ließ sich noch etwas anderes vermuten. Eine Art innere Ruhe, die von Selbstsicherheit und tiefem Verständnis erzählt, wie sie nicht zum Erscheinungsbild des jungen Menschen passten.


Seinen Blick etwas unsicher erwidernd antworte ich: "Ich laufe in Richtung des Horizonts," während ich mit meiner linken Hand in Richtung der Straße zeigte, die sich in der Ferne verjüngt, bis sie mit einem Punkt am Horizont verschwand.


Der Junge wendet seinen aufmerksamen Augen von mir ab und blickt meinem ausgestreckten Finger gen Horizont nach. Nach einem kurzen Augenblick des sinnens wendete er sich mir wieder zu:


"Und was genau erhoffst du dort zu finden? Dort hinten am Horizont?"


Etwas ertappt gebe ich kleinlaut zu: "Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht genau. Ich folgte der Straße einfach. Tag ein, Tag aus, Schritt um Schritt, Meter um Meter. Irgendwohin muss sie ja schließlich führen…?”


Der Junge schaut mich einen Moment still an - meine Unsicherheit und mitschwingende Frage am Ende erkennend: "Wenn du nicht weißt, wohin sie führt und was dich hinter dem Horizont erwartet, woher weißt du dann, ob du in die richtige Richtung läufst?"


Verärgert gestehe ich mir ein, dass der Junge damit einen wiederkehrenden Zweifel angesprochen hat, der mich manchen Tages meine Schritte verlangsamen oder mich beinahe stillstehen lässt.


Die Wahrheit ist, oft zweifel ich an meinem eigenen Vorhaben. Es ist ein kaltes Gefühl der Sinnlosigkeit, das von meinem Herzen in meine Gliedmaßen ausstrahlt, sie erschwert und Ihnen jeglichen Antrieb nimmt.


"Ich weiß es nicht so genau'', antwortete ich ihm kleinlaut und durch zusammengebissene Zähnen, “manchmal erscheint es auch mir zwecklos und ich habe Schwierigkeiten, weiter zu laufen.


Um ehrlich zu sein, dieser Zweifel schwingt in jedem meiner Schritte mit. Manchmal mehr, manchmal weniger.”


“Hast du Angst?”


Erwischt. Etwas ertappt, nehme ich meine Augen von den seinen und richte sie auf den staubigen Asphalt vor meinen Füßen, den ich 5 Minuten zuvor noch so entschlossen und konzentriert entlang gestampft bin.


“Ja, kleiner Junge, ich denke ich habe Angst. Angst vor der Ungewissheit. Was ist, wenn ich wirklich in die falsche Richtung laufe? Was ist es, das mich am Ende der Straße erwartet? Was ist, wenn ich erst dann merke, dass ich die ganze Zeit in die falsche Richtung gelaufen bin. Was ist, wenn es dann zu spät ist…?”


Ich zöger einen Moment, bevor ich in Gedanken versunken und monoton weiter spreche:


“Weißt du, manchmal bringt mich diese Ungewissheit schier um den Verstand. In diesen Momenten, wenn die Ungewissheit und Endlichkeit meiner Straße mich einholt, ergreift mich die Panik.


Manchmal fange ich in diesen Momenten an zu rennen - in der Hoffnung, Zeit zu gewinnen und alle Wege einmal entlang laufen zu können - nur um zu wissen, welcher mir denn am besten gefällt.


Manchmal verfalle ich in Angststarre und kann nicht weiterlaufen. In diesen Momentan kneife ich meine Augen so fest wie möglich zusammen und starre die Straße mit all ihren Abbiegen und Windungen hinauf.


Im verzweifelten Versuch, irgendetwas am Horizont zu erkennen, dass mir als Anhaltspunkt dient, ob ich auf dem richtigen Weg bin und welche Richtung ich einschlagen soll.


Doch so sehr ich es versuche, ich kann am Horizont nichts erblicken als die schimmernde Ungewissheit und das hitzige Flimmern von dem heißen Asphalt.


Also bleibe ich wie verwurzelt stehen und zermartere mir den Kopf in Gedanken, was mich am Ende einer jeden Weggabelung wohl erwarten möge und welche Richtung ich einschlagen sollte. Ich glaube, man nennt das auch Überdenken.


Wenn ich doch nur etwas dort am Horizont erblicken könnte… DANN könnte ich mit Gewissheit sagen, welchen Weg ich einzuschlagen hätte…”


Die ganze Zeit über hatte der Junge geduldig und mit ungeteilter Aufmerksamkeit zugehört. Es war seltsam, mit welcher Aufmerksamkeit er zuhörte. Es wirkte auf mich, als bliebe keines meiner Worte unbeachtet - ob ausgesprochen oder nicht.


Er wartete einen Moment, ob ich denn etwas ergänze, bevor er wieder zu sprechen begann. Der Witz in seinen Augen war etwas verschwunden und einem tiefen Wirken von Verständnis und Ernsthaftigkeit gewichen, als er fragte:


“Du hast Angst vor Reue. Du weißt nicht, wohin die Straße dich führt. Du weißt nicht, wohin ihre Abbiegungen folgen. Und daher hast du Angst, am Ende zurück zu blicken, wenn du das unausweichliche Ende deiner Straße erreicht hast.”


Es war keine Frage, die er stellte, es war eine Erkenntnis.


“Ja, ich habe Angst, mein Leben und den Weg, den ich gewählt habe, zu bereuen, da ich meinen Lebenssinn verkannt und verraten habe. Und wie kann man denn auch anders, als Angst zu haben?


Der Lebenssinn ist alles ein Rätsel, dessen Unlösbarkeit in seinen Rahmenbedingungen liegt: Jeder Mensch, jedes Tier, jede Pflanze, jeder Planet, jeder Mikroorganismus, jedes Universum - sie alle haben nur eine begrenzte Existenz. Und auch wenn all diese Existenzformen eine unterschiedliche Existenzdauer haben, so ist sie in jedem Falle doch unendlich kurz.


Denn jeder dieser endlichen Existenzen folgt eine unendliche Nichtexistenz. Und in Anbetracht der Unendlichkeit, ist jede noch so lange Existenz gleichermaßen unbedeutend.


Wie soll man denn da einen Lebenssinn finden? Oder noch schwieriger: Wie soll man sich denn da auf nur einen Lebenssinn festlegen? Die Möglichkeiten sind so unendlich, und das Leben so kurz.”


Ich nehme den Blick von dem Stück staubigen Asphalt vor meinen Füßen und richte ihn erneut gen Horizont, wo ich die Hitze in Schwaden vom Beton aufsteigen sehe.


“Ich befinde mich auf einer unendlichen Straße mit unendlichen Möglichkeiten. Aber ich kann immer nur eine Möglichkeit wahrnehmen. Denn jedes Mal, wenn ich mich für eine Abzweigung ent-scheide, dann scheide ich mich von einer anderen.


Denn du musst wissen, diese Straße verfügt über gewisse Regeln. Ich kann beispielsweise zurückschauen, aber niemals zurückgehen. Und ich kann dir das mit Gewissheit sagen, denn ich habe es schon oft versucht und verzweifelt gewünscht!


Die Wahrheit ist doch die: Es gibt kein Ende dieser Straße. Sie wird den Horizont - genau wie ich - nie erreichen. Der Straße macht das nichts aus. Sie schlängelt sich unendlich gen Horizont weiter. Doch ich muss sie an einem mir unbekannten Punkt verlassen.


Und ich kann nur hoffen, dass ich, wenn ich mich ein letztes Mal umdrehe, mit dem Weg zufrieden bin, den ich eingeschlagen habe. Und dieser Gedanke macht mir Angst.”


Ich spüre den aufmerksamen Blick des Jungen auf meinem Haupt, doch ich traue mich nicht, ihn zu erwidern. In Angst davor, was ich in seinem weisen Blick finde. Ist es Angst, Mitgefühl, Spott?


“Und trotzdem läufst du weiter,” durchbrach der Junge plötzlich das Schweigen. Von seinem Tonfall überrascht, hebe ich meine Augen und erwiderte seinen Blick. In seinen Augen lagen Witz und Freude.


“Ja,” antwortete ich etwas zögerlich, unsicher, wie ich auf diese plötzliche Wandlung an Emotionen reagieren sollte, “und trotzdem laufe ich weiter.


Weißt du, ich glaube nicht an Schicksal im üblichen Sprachgebrauch. Ich glaube nicht, dass unser Weg vorbestimmt ist. Für mich ist Schicksal eine komplexe Kombination von Zufall, Chancen, Bedingungen und unendlich kleinen und großen Entscheidungen.


Mit dem Schicksal verhält es sich komisch. In die Zukunft blickend ist das Schicksal ungewiss. Doch zurück blickend, ergeben sich vermeintliche Zusammenhänge und alles macht einen Sinn.


Wenn ich die Straße hinauf schaue, verschwimmen ihre Konturen bereits nach wenigen Metern. So sehr ich es auch versuche, ich kann nicht erahnen, was sich hinter der nächsten Weggabel befindet.


Wenn ich allerdings hinter mich blicke, dann sieht der Weg, den ich bereits bewältigt habe, geradlinig aus. Rückblickend erscheint alles so sinnhaft und logisch.


Als würden alle Weggabelungen nur zu diesem einen Moment hier und jetzt führen. Das Schicksal offenbart sich nur im Blick in die Vergangenheit. Doch diese Erkenntnis macht mir Hoffnung.


Denn wenn rückblickend alles einen Sinn ergibt, dann wird auch mein nächster Schritt und mein nächstes Stolpern irgendwann einen Sinn ergeben. Ich kann den Sinn dahinter heute nur noch nicht erkennen.


Ich weiß zwar nicht, wohin ich laufe, aber ich denke, wir müssen nicht immer wissen, wohin wir laufen, um schlussendlich irgendwo anzukommen.


Ankommen ist kein einmaliges Erlebnis am Ende eines Weges. Ankommen liegt in jedem Moment der Revision, in der sich das Schicksal plötzlich offenbart.


Das bedeutet im Umkehrschluss, dass, wenn ich nur beständig und bedächtig weiterlaufe, irgendwann mein eigenes Schicksal erkennen werde. Zumindest habe ich diese Hoffnung”


Während ich diese Woche spreche, regt sich ein zartes Gefühl der Einsicht und Ruhe in mir. Für einen Moment habe ich den kleinen Jungen ganz vergessen. Als ich ihm meinen Blick erneut zuwende, schaut er mich aufmunternd an.


“Weißt du,” ergänze ich nach kurzer Pause etwas niedergeschlagen und zögerlich, “wenn ich mich selbst so sprechen höre, dann klingt es so einleuchtend und simpel. Als wäre ich weiß Gott, ein weiser Mann.


Aber im tagtäglichen Leben ist von dieser vermeintlichen Weisheit meist nichts zu erkennen. Reden schwingen, ja, das kann ich. Aber meine eigenen Weisheiten umsetzen, das kann ich nicht.


Stattdessen hetze und stolper ich konstant vor mich hin, auf der Jagd nach dem ewigen Horizont, den ich nie erreiche.”


Ich höre abrupt auf zu sprechen, in der Hoffnung, der Junge möge etwas erwidern. Doch er stand nach wie vor mit dem leicht verschmitzten Grinsen im staubigen Gesicht dort.


Nach einigen Momenten des Schweigens fahre ich fort:


“Weißt du, ich habe wirklich nur einen aufrichtigen Wunsch im Leben: Wenn ich am Ende meines Weges angekommen bin, dann möchte ich mich ein letztes Mal umdrehen und das Schicksal und den Weg betrachten, den ich gewählt, bestolpert und bewandert habe.


In diesem Moment wünsche ich mir, dass ich dabei kein Gefühl der Reue und Unvollständigkeit verspüre, sondern der Liebe, Dankbarkeit und Erfüllung.


Wie ich das anstelle, das weiß ich selbst noch nicht so genau. Doch hier ist was ich weiß: Solange ich einen Schritt vor den anderen setze, solange ich jeden Schritt mit Aufmerksamkeit tue, solange ich in jedem Schritt ein Ankommen verspüre, solange mich der Blick nach hinten nicht erschüttert und der Blick nach vorne mich nicht hetzt, solange bin ich auf dem richtigen Weg.”


Der Junge sah mich an, ohne etwas zu sagen. Doch konnte ich in deinen Augen lesen, dass er mich verstand. Plötzlich überkommt mich ein Gefühl der Vertrautheit und Gewissheit, als ich ihn frage:


"Wir werden uns wieder sehen, nicht wahr?"


"Das werden wir," antwortet er. “Vielleicht morgen, vielleicht übermorgen, vielleicht in einigen Monaten oder Jahren. Aber ich werde dich stets begleiten, beobachten und jedes Mal da sein, wenn du ins Straucheln kommst oder an der nächsten Weggabelung verzweifelst.


Manchmal als stiller Zuhörer, manchmal als Sprecher. Manchmal als Fragesteller, manchmal als Ratgeber. Manchmal als Kritiker, manchmal als Antreiber. Manchmal werde ich schreien, manchmal werde ich schweigen. Manchmal werde ich lachen, manchmal werde ich weinen.


Aber ich werde da sein. So auch am Ende des Weges. Denn dein Weg ist auch der meine.”


Mit diesen Worten wandte er sich von mir ab und zog seinen Weg fröhlich pfeifend entlang. Ich schaute ihm lange hinterher, bis er hinter den Hitzewaben verschwand.


So stand ich dort eine ganze Weile, an nichts bestimmtes denkend. Nicht euphorisch, nicht traurig, aber mit einem angenehmen Gefühl der Präsenz und Ruhe. Ich kann nicht sagen, wie lange ich dort so stand.


Doch irgendwann nahm ich mich am Herz, richtete den Blick erneut gen des vertrauten Horizonts und setzte meinen Weg fort - aufmerksam und Schritt für Schritt. In Ungewissheit vor der Zukunft, in Gewissheit der Endlichkeit und im Anerkennen des Ankommens in jedem Moment.”




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